Giovanni Carmine

Die Welt unter Strom

Bellavista, so banal heisst der moderne Hotelanbau des nationalen Sportzentrums in Magglingen, wo die Menschen bis an ihre Limiten getestet und auf Spitzenleistung getrimmt werden. Hier werden die Schweizer Athleten verpflegt, hier erholen sie sich von den harten Trainingseinheiten. Der Name verrät aber auch eine weitere Eigenschaft des Gebäudes: Von hier aus geniesst man eine atemberaubende Aussicht auf das Seeland. Befremdend wirkt, was auf der Rückseite des Bellavista zur Schau gestellt wird. Es ist das pure Gegenteil einer romantisierenden Landschaft, die der Beruhigung dienen kann: Hier ist eine freigelegte Felspartie zu sehen, die mit einem Netz überspannt ist und durch Halogenscheinwerfer präzise beleuchtet wird. Im ersten Moment scheint sich eine technokratische Ingenieurarchitektur zu zeigen, doch viel mehr eröffnet sich uns ein bedrohliches Absturzbild; der Berg scheint in den Raum zu expandieren und alles mit sich reissen zu wollen. Ein Bild eingefügt in eine idyllische Kulisse, die, wie gesundes Essen und hartes Training, der besseren Performance dienen könnte.

Diese Intervention wurde von Bob Gramsma in Rahmen eines Kunst-am-Bau-Projektes geschaffen. Das Werk –, OI#0382 aus dem Jahre 2003 scheint ideal, um einige Strategien und Ideen des Künstlers zu diskutieren und zu durchleuchten. Hier zeigt sich eine Schnittstelle, die mehrere thematische Aspekte wie auch formale Lösungen von Gramsmas Arbeit beinhaltet. Durch den Einsatz von Licht und Beleuchtungselementen für die Herstellung einer installativen Anlage, aufgeladen mit fiktionalem Potenzial, sowie mit der Entwicklung eines skulpturalen Moments durch eine para-archäologische Ausgrabungsaktion, aber auch mit der Nutzung des inhaltlichen Potenzials, das die Eigenschaften des Kontextes bieten, ist –, OI#0382 ein Paradebeispiel im Schaffen des Künstlers. Hier hat er eine grossangelegte, energiegeladene Situation geschaffen.

Energie ist ein rekurrierendes Interesse in Bob Gramsmas Werk. Seine künstlerische Welt ist durchdrungen von Objekten und Räumen, die auf die Verteilung, Produktion und Nutzung von Strom und Energien referieren: Keramikisolatoren von Hochspannungswandlern, die in einem überfluteten Elektrizitätswerk aus dem Wasser spriessen (–, OI#0382), oder kopfüber von der Decke hängende Masten mit verkohlten und überwucherten Oberflächen (utility poles, OI#13176–80) oder auch die gesichtslosen, jeglicher Signaletik entledigten und entkoppelten Leuchtboxen (into the dark, OI#10136). Diese Objekte, die der alltäglichen industriellen Landschaft entfremdet sind, scheinen uns durch Gramsmas Hände in eine postapokalyptische Welt zu stürzen. Es gibt aber keine moralisierende Intention seitens des Künstlers, vielmehr werden wir hier mit der Ambivalenz dieser Zeitzeugen konfrontiert. Mit ihren faszinierenden skulpturalen Qualitäten und der komplexen und hoch entwickelten Formensprache ermöglichen sie die Entwicklung einer Narration und werden zu einzigartigen Protagonisten einer umfassenden Geschichte. Während beim Betrachtenden unvermeidlich Gedanken ans Scheitern der Zivilisation hochkommen, wird gleichzeitig auf die herausragende Ästhetik der Technologie aufmerksam gemacht, diese gar zelebriert.

Auch open source, OI#13168 ist ein merkwürdiges skulpturales Objekt. Leicht identifizierbar als überdimensioniertes Ventil, nimmt es eine besondere Stellung im Werk von Bob Gramsma ein. Kürzlich ausgestellt auf einem geschrägten Gummiring im Zentrum seiner Einzelschau im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil, wird es hier zur Metapher seines künstlerischen Schaffens: In diesem Raum konzentriert sich Spannung, und Energiefelder werden aufgebaut. Interessant ist aber auch die Entstehungsgeschichte dieser raffinierten Skulptur, die das Prozesshafte in Gramsmas bildnerischem Schaffen unterstreicht und beleuchtet. Die Skulptur ist das Resultat eines mehrwöchigen Workshops, den der Künstler mit Zürcher Schulkindern realisiert hat. Ziel war es, eine künstlerische Intervention auf der Brache des Hardturm-Stadions zu realisieren. Diese Brache ist nicht nur ein Ort voller Fussball-Heldengeschichten, sondern auch Symbol für politische Misserfolge, und darüber hinaus ist sie die grösste leerstehende und wirtschaftlich ungenutzte Fläche Zürichs. Das Resultat erstaunt, denn ein Ventil in die Mitte der Arena-Brache zu stellen, hat nicht nur die vielschichtige Komplexität dieses «Non-Lieu» präzise thematisiert und Gramsmas Werkbiographie um ein interessantes Werk reicher gemacht, sondern auch eine nicht banale kunstgeschichtliche Anspielung eröffnet. Die Idee erinnert an den 1961 realisierten Socle du Monde von Piero Manzoni. Dieser auf den Kopf gestellte, minimalistische Stahlkubus hat, dank einer humorvollen poetischen Geste, die ganze Weltkugel in eine Skulptur verwandelt. Dieses Potenzial erkennt Bob Gramsma in der Realität, die ihn umzingelt, und er arbeitet daran, unsere Welt immer mehr unter Strom zu setzen.