Markus Stegmann

Inwendiger Weltraum – a leap into paradise, OI#10135

Schaue ich an einem schönen Sommertag in den Himmel, ist kein Weltraum dort. Schaue ich morgens oder abends an den Horizont, sehe ich Sonne und Mond aufgehen und wieder versinken, ein paar Sterne noch, aber vom weiten, unendlichen Weltraum sehe ich nicht viel. Schaue ich ins Innere, wenn ich mich erinnere, wenn ich abgelegte Bilder, Vorstellungen, Prägungen in Gedanken hervorhole, ausgrabe, innerlich hin und her bewege, dann, ja, vielleicht dann fliegt flüchtig, unfassbar etwas weltraumhaft Weites heran, das sich jedoch angesichts seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit sogleich wieder pulverisiert. Warum der Gedanke an den Weltraum?

Wenn ich auf den Müllhalden dieser Welt wühle, wenn ich den Müll verschiedener Kontinente miteinander zu vergleichen beginne, wenn ich abgelebte Gegenstände sorgfältig säubere und ordentlich nebeneinanderlege, die noch nicht vollständig zerstörten, zerbrochenen, verfaulten, dann, ja, vielleicht dann könnte eine Enzyklopädie der Dinge entstehen. Sie begleiteten die Lebenden eine Zeit lang, doch wenn ich ihre emotionalen Bindungen zu rekonstruieren versuche, atomisieren sie sich und verwehen in alle Winde der Welt. Warum der Gedanke an Müll?

Wenn ich versuchen würde, mir alles, was einmal klug und vernünftig zur Kunst, nur zur Kunst, geschrieben wurde, vor Augen zu führen, wenn ich ausserdem versuchen würde, diese Heuschreckenschwärme aus Wörtern und Bedeutungspartikeln mit einem Schmetterlingsnetz einzufangen, ich müsste von vornherein scheitern. Und hätte ich jemals alle Worte gefangen, sie würden mir sogleich zu Tausenden und Abertausenden zwischen den Händen wieder zerrinnen. Ich kann die Wörter nicht halten, und wenn ich es könnte, würde ich sie nicht begreifen. Warum der Gedanke an Wörter?

Weltraum, Müll und Wörter, drei seltsame Gedanken, die a leap into paradise, OI#10135 zündet, dieses gewaltige Gehänge, dieser Findling, dieses Konglomerat unbekannter Ablagerungen. Ein Gebilde, das Verwunderung auslöst, mich ins Nachdenken und Mutmassen zieht, in einen mäandrierenden Zustand freudigen Wunderns versetzt, immer neue Bilder aus dem Gedächtnis ausschwemmend. Und schon hängen sie schillernd in der Luft, die vielen Gedanken und Erinnerungen. Mit jedem Blick werden sie zahlreicher, farbiger und widersprüchlicher zugleich. Der Sprung ins Paradies, so der Titel der Arbeit, ist zunächst ein Sprung ins Unbekannte, das bemerkenswert mager und symphonisch zugleich erscheint. Eine Leere, die gar nicht leer, sondern mit Zeiträumen, Materialien und Rätseln reich gefüllt ist. Die zunächst noch isolierten Gedanken, einsam irgendwo zwischen Himmel und Erde hängend, haben sich unterdessen zu einem theatralischen Gemenge verwoben und verstrickt, sind nicht mehr auf einzelne klare Momente zurückführbar, sondern schweben in der Umlaufbahn des Irrationalen. Schön, im Stillen dabei zu sein, all den Verkantungen, Brechungen, inneren Verkrautungen freien Lauf zu lassen.

Während sich dies vor meinen Augen und inneren Ohren vollzieht, wandere ich langsam um das hängende Gemenge und denke, welch Glück, dass ich nichts verstehe, dass ich nicht reflexartig den Verstand einschalten muss, dass ich mich ihm geradezu verweigern kann, und das mit erfrischender Leichtigkeit. Doch je länger ich dem fast berauschenden Glück des Irrationalen folge, desto stärker spüre ich die Klaue des Verstands, der fordert, dass ich ihm endlich Rechenschaft ablege. Er möchte wissen, was a leap into paradise, OI#10135 eigentlich sei, wie man seine Form erklären, seine Bedeutung bemessen, seinen inneren Sinn auffinden und entschlüsseln könne.

Aus dem Irrationalen möchte ich keine Ideologie ableiten, ebenso wenig den Verstand zur massgeblichen Instanz erheben. Mich interessiert das Verhältnis zwischen beiden, vielleicht könnte man es ein Gespräch nennen, doch eher wohl ein verstecktes Gefecht, einen Wettstreit. Fragen der Deutungshoheit, um die es in solchen Debatten geht – wer hat recht, wer kommt der Wahrheit am nächsten, wer hat es als Erster herausgefunden –, interessieren mich allerdings nicht. Denn es geht ums Auffinden und wieder Verlieren, ums Erkennen und wieder Abtauchen in die Nacht, um einen Funken, einen Blitz bestenfalls, um im nächsten Moment wieder abzusinken unter die Oberfläche des schwarzen Sees des Verschwindens. Dieser Funkenflug der Kunst lässt sich nicht messen, wägen und zählen.

Abdrücke und Ausformungen, Verschleifungen und Verkantungen ohne erkennbares System, ohne Regel und Gesetz, so tritt mir die Oberfläche dieses Weltraums gegenüber. Abgelagertes Gestein, urzeitliche Sedimente, archäologische Stratigrafien kommen mir in den Sinn und weichen wieder zurück, wenn ich daran denke, dass dieser Ballen sich ebenso aus Trümmern, Müll und Verwesendem zusammensetzen könnte, angeschwemmt und abgelagert irgendwo, verklebt und bis zur Unkenntlichkeit verbacken. Und wenn ich mir vorstelle, wie viele Wörter man in Gebrauch nehmen könnte, um die visuellen Phänomene zu beschreiben, nur um sie zu beschreiben, sie noch nicht einmal zu interpretieren, bin ich erst recht verloren.

Und doch vermittelt sich ein klares, physisch gewichtiges Gegenüber. Kein vager Wortstrom, kein brüchiges Sediment irgendeiner Bruchkante eines entlegenen Kontinents, sondern eine wache, sinnliche Präsenz, die ein Fenster öffnet, das ich nicht vermutet, mit dem ich vorher nicht gerechnet hätte. Dass es einen solch inwendigen Weltraum überhaupt geben und dass ich ihm sozusagen auf «Augenhöhe» begegnen könnte, hätte ich nicht vermutet. Mit allem, was er wie ein Vulkan ausschleudert, was er in Asche hüllt, was ich durch diesen Nebel hindurch in klarer Unklarheit zu erkennen glaube. Ein komprimierter Kosmos der Zivilisation, eine archäologisch kostbare Latrine unserer Zeit, ein Meteor der Zukunft.

Ist das der Sprung ins Paradies? Vielleicht, mag sein. Aber da müsste ich definieren, was das Paradies überhaupt ist, was es alles sein könnte. Doch das Paradies zu erklären, würde bedeuten, sich einer der elementarsten Hoffnungen zu berauben. Jenes unbekannte Terrain, das im Nirgendwo vage zu vermuten wäre, das womöglich in einem verzauberten Moment Funken auffliegen lässt, die uns ohne Rückkehr davontragen.