Irene Müller

Eintauchen aus der Tiefe – Einige raumtheoretisch motivierte Überlegungen

In Bob Gramsma künstlerischem Schaffen spielen das Denken von Raum und die Erfahrung von Räumlichkeit eine zentrale Rolle. Seine präzise konzipierten räumlichen Situationen und plastisch-skulpturalen Formungen, welche die Betrachterinnen und Betrachter unweigerlich einbeziehen und sie dadurch zu Involvierten in vielschichtigen Interaktionsgeflechten machen, evozieren diese Lesart nachdrücklich. Der von Gramsma intendierte Einbezug des Publikums überwindet ebenso gängige Merkmale einer rezeptionsästhetischen Strategie wie er partizipatorische Signale von ihrem oftmals anekdotischen Gestus des Mitmachens entschlackt. Vielmehr provozieren die Arbeiten die Teilhabe an einer Erfahrung von Raum und Struktur, von Realitätskonfigurationen und mental-imaginativen Raumbildern. Sie artikulieren sich als prägnante Setzungen, die in ihrer physisch-materialen Präsenz immer auf das scheinbar Abwesende, das Nicht-Sichtbare, aber gedanklich Existente verweisen. Durch ihren Bezug zum «Umraum», durch das Wechselspiel von Einbettung und Verdrängung, von temporärer Fixierung und genuiner Beweglichkeit können sie als Prozess erfahren werden, an dem man als Besucherin, als Besucher selbst massgeblich beteiligt ist.

Ausweitung in die Räumlichkeit

Verknüpft man Gramsmas Arbeiten nun mit dem breiten, von unterschiedlichen Diskursen durchzogenen Feld der Raumtheorie, zeichnen sich zwei richtungsweisende inhaltliche Stränge ab. Vor einigen Jahren ist eine Reihe von Arbeiten entstanden, die mögliche Denkweisen von Raum anhand der Kategorien von Aussparung und Einschluss, Spur und Eindruck untersuchen hollow halo, hello hollow, OI#10141 ist eine von der Decke herabhängende Ringform, die unmittelbar auf der plastisch-formenden Geste basiert. Die grabende Hand hinterlässt im Lehmbett eine V-förmige Markierung, die – abgeformt und armiert – als monumentales, kreisförmiges Objekt in Erscheinung tritt. Das Licht der darübergeschichteten Fluoreszenz-Röhren umspielt die Struktur mit einem hellen Saum, beleuchtet die Oberflächentextur. Die Skulptur – oder besser die Plastik – erleuchtet sich selbst und den Ausstellungsraum.
In ihrer Erscheinung als ambivalentes Schwebeobjekt erlaubt diese Arbeit eine Anknüpfung an ein phänomenologisches Raumdenken, in dem neben Wahrnehmung und Leiblichkeit vor allem der Räumlichkeit bei der Beschreibung des menschlichen Seins und dessen Konstituierung eine zentrale Rolle zukommt. Dies betrifft insbesondere die Überlegungen Gaston Bachelards, der in seiner Poetik des Raumes (1957) die damals aktuelle gedankliche Konzeption von Draussen und Drinnen als vorgegebene ontologische dialektische Trennung kritisiert. Bei ihrer metaphysischen Übertragung auf die Kategorien von Sein und Nichtsein werde eine unausgesprochene Geometrie ein- oder weitergeschrieben, die ihrerseits die Aggressivität ihrer formalen geometrischen Opposition in sich trage: «Man erhebt die Dialektik des Hier und des Dort in den Rang eines Absolutums. Man verleiht diesen ärmlichen Adverbien der Ortsbestimmung eine kaum kontrollierte Macht ontologischer Bestimmung.» (1) Erst die gedankliche Aufweichung des euklidischen Raumverständnisses und dessen Prägung des dialektischen Verhältnisses von Draussen und Drinnen ermögliche eine Annäherung an den Raum als bewegliches Element; denn «[w]enn man in das Sein eingeschlossen ist, wird es immer darauf ankommen, hinauszugelangen. Und kaum draussen, wird man wieder zurückkehren müssen. So ist im Sein alles im Umlauf, alles Umweg, Wiederkehr, Umschreibung, alles ist ein Rosenkranz von Seinsformen, alles ist ein Kehrreim endloser Strophen.» (2) In Gramsmas Lichtobjekt artikuliert sich ein gleichzeitiger Ein- und Ausschlussraum, die An- und Abwesenheit von Materie und Raum, von Zeit und Raum fallen zusammen, durchdringen einander und bestätigen sich in ihrer gegenseitigen Notwendigkeit. Unter Rückbezug auf Bachelard lässt sich postulieren, dass hier ein Raumverständnis zutage tritt, das mit einer Möglichkeitsausdehnung des Seins und insofern auch einer erweiterten Erfahrbarkeit von Räumlichkeit korrespondiert. Es gibt nicht nur den Zustand innerhalb der kreisförmigen Struktur und unterhalb des Lichtkegels oder ausserhalb, im Halbdunkel des umgebenden Raums, im ausgegossenen Graben der Ringstruktur oder an dessen Aussenwandung, sondern auch die Zwischenbereiche, Übergänge sowie «Bewegungen des Öffnens und Schliessens», die sich an der « [...] Oberfläche des Seins, in jener Region, wo das Sein sich bekunden will oder sich verstecken will [...]» (3), abspielen.

Ergrabene Zukunft

Diese Auffassung von Raum als bewegliche Kategorie lässt sich ebenso in anderen Arbeiten beobachten, wobei sich wiederum anders gelagerte Akzente eines raumtheoretischen Denkens nachzeichnen lassen – so auch bei a leap into paradise, OI#10135, einem monumentalen Polymer-Gips-Guss, der von der Decke herabhängend installiert ist. Bildlich gesprochen konserviert die archaisch wirkende Form das Eintauchen einer Person in den Raum. Konkret handelt es sich um die abgegossene «Hülle» einer wochenlangen Ausgrabung durch den Künstler, gewissermassen eine rückläufige Verpuppung, bei welcher der Kokon nicht durch Anhäufung des umgebenden Materials, sondern durch dessen Abtragung erzeugt wird. (4) Als paradoxes Gegenbild zu Yves Kleins Leap into the void (1960) verändert Gramsmas «Sprung» die Raumerfahrung an sich. Die ausgegrabene Höhlung zeigt sich als (Aussen-)Form und Volumen, die metallisch schimmernde Oberfläche bezeugt Spuren einer abwesenden Anwesenheit. Zugleich ist sie jedoch auch «Leerstelle», die sich anhand ihres wahrgenommenen Äusseren und ihrer erlebten Umgebung konstituiert. In der räumlichen Spur der Nachzeitigkeit äussert sich nicht nur die Performativität dieser Arbeit, sondern auch die Anwesenheit eines Anderen, das sich als ein im Verborgenen Mitgebrachtes einer eindeutigen Fixierung entzieht. So, wie in Walter Benjamins Erzählung (5) von den im Schrank zusammengerollten Socken ein Sog ausgeht, der den Erzähler immer wieder dazu verführt, das «Mitgebrachte» aus seiner Strumpftasche herauszuziehen, nähern sich die Besucherinnen und Besucher der kompakten Form, umkreisen sie und versuchen, ihr Inneres auszumachen. Doch der Erkenntnisprozess verläuft unterschiedlich. Benjamins Erzähler muss erfahren, dass das «Mitgebrachte» in dem Moment nicht mehr existiert, in dem er es enthüllt und die Strümpfe in der Hand hält: «Er [der Vorgang] lehrte mich, dass Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind.» (6) In der Begegnung mit Gramsmas Arbeit stellt sich eine andere Erkenntnis ein, nämlich diejenige der Kontingenz von Wahrnehmung.
Abgesehen vom assoziativen Bezug zu Benjamins hermeneutischer Parabel, in der das Kinderspiel in eine metaphorischen Beziehung zur Interpretation von Kunstwerken gesetzt wird (7), erlauben insbesondere die äusseren Anzeichen des Entstehungsprozesses weitere raumtheoretische Überlegungen. Die sichtbare Handlung der Grabung erlaubt Annäherungen an ein Raumdenken, das der (sozialen) Tätigkeit als räumliche Praxis einen genuinen Stellenwert zumisst. Diesbezüglich markiert Michel de Certeaus Kunst des Handelns (1980) einen produktiven Bezugspunkt, da hier eine klare Differenzierung zwischen Vor-Ort-Sein und Am-Ort-Handeln formuliert wird. Am Beispiel von New York stellt de Certeau unterschiedliche Raumerfahrungen einander gegenüber, und zwar im Betrachten der Stadt von oben und im Bewegen innerhalb des städtischen Organismus. Im Gehen artikuliert sich eine Raumpraxis, die als einzigartig und vielfältig, mikrobenhaft und widerständig gegenüber vorgezeichneten Spuren, Systemen und Codes charakterisiert wird. (8) Mit der Differenzierung von «Ort» und «Raum» führt de Certeau den zentralen Aspekt der körperlichen Wahrnehmung beziehungsweise Erfahrung weiter aus: Der Ort ist für ihn eine «momentane Konstellation von festen Punkten», die einen Hinweis auf mögliche Stabilität enthalten, während sich der Raum durch Aktivitäten und Bewegungen konstituiert und letztlich als «ein Ort, an dem man etwas macht», definieren lässt. (9) Die Prozesse der Alltagspraxis erhalten so ein gestalterisches Potenzial, sie ermöglichen Formen der Aneignung und Verwandlung, der Umwertung und Verschiebung. Setzt man de Certeaus Alltagspraktiken in Bezug zu Gramsmas künstlerischer Position, so kann auch diese als eine Praxis verstanden werden, durch die Raum als dynamisches Gefüge, als prozessual im Handeln Hergestelltes erfahrbar wird. Raum ist vor diesem theoretischen Hintergrund keine feste physikalische Grösse, innerhalb derer sich Handlungen ereignen, sondern vielmehr etwas durch Tätigkeiten Gebildetes, das bewegliche, diffundierende Grenze besitzt, die sich an einer Stelle aufrichten und im selben Moment an einer anderen abbauen. Demzufolge können sich an einem Ort mehrere Räume bilden und wieder auflösen, als räumliche Markierung gleichzeitig anwesend als auch abwesend sein.

Anhand dieser beiden Arbeiten und der dazu in Bezug gesetzten theoretischen Modelle spannt sich ein Netz an weiterführenden Assoziationen auf, das auch auf aktuelle (kultur-)politische Bereiche ausgeweitet werden kann. Gramsmas Arbeiten konfrontieren uns bewusst mit kollektiven Vorstellungen von räumlichen Gepflogenheiten oder Verfahrensweisen; sie stellen infrage, was gemeinhin als Vertrautes oder Eigenes betrachtet werden kann, und setzen diesen Annahmen das Potenzial der unmittelbaren Erfahrung entgegen. Vor diesem Hintergrund geraten historisch motivierte territoriale Besetzungen und rein gesellschaftstheoretisch fundierte Okkupationen in Bewegung, sie entpuppen sich als temporäre Strategien eines Raumverständnisses, das ideologisches Besitzstanddenken als politischen Argumentationshighway benutzt und dadurch gleichzeitig entlarvt wird. Obschon Gramsmas Arbeiten vordergründig kein expliziter realitätspolitischer Verweis inhärent ist, erlauben sie letztlich diesen Gedankensprung: Mit ihrer räumlich-materialen Unmittelbarkeit und undoktrinären Präsenz fordern sie Momente von kognitiver, aber auch körperlicher Reibung heraus, sie agieren wie temporäre und Material gewordene gedankliche Konglomerate, die substanzielle Erfahrungen hinterlassen.

Dieser Text basiert auf dem Presse- und Ausstellungstext der Autorin, verfasst anlässlich der Einzelausstellung von Bob Gramsma im Dienstgebäude, Zürich, 25. August bis 18. September 2010.

  1. Gaston Bachelard, Die Poetik des Raumes, Frankfurt a. M.: Fischer, 1987, zitiert nach: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte der Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, S. 171.
  2. Gaston Bachelard, 1987/2006, S. 172.
  3. Gaston Bachelard, 1987/2006, S. 175.
  4. Das im Titel erwähnte Wort «paradise» bezieht sich einerseits auf die nach ihrem Standort benannte Ziegelgrube Paradies der Ziegelei Keller AG in Unterschlatt/TG; es erweitert jedoch andererseits auch das Spiel der inhaltlichen Assoziationen.
  5. Walter Benjamin, «Der Strumpf», in: ders., Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Fassung letzter Hand, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992, S. 58.
  6. Walter Benjamin, 1992.
  7. Vgl. hierzu Helmut Kaffenberger, «Denkbilder des dritten Raums. Walter Benjamins Theorie des Ähnlichen», in: Claudia Breger, Tobias Döring (Hrsg.), Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam: Editions Rodepi 1998, S. 44.
  8. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 186.
  9. Michel de Certeau, 1988, S. 218.